Kaum eine Jahreszeit wurde so reichhaltig in ihren Bildern und Metaphern beschworen, wie der Herbst. Pralles Korn und reife Früchte in höchster Süße warten darauf, geerntet und verzehrt zu werden. Die Tagewerden kürzer und das Licht eigenartig klar. Winde wirbeln prachtvoll buntes Laub von den Bäumen und bringen eine Ahnung von den kommenden stillen Tagen mit sich. Es ist die Zeit der geschäftigen Ernte und des innehaltenden Rückblicks. Wie war das Jahr? Was hat es gebracht, was hat es genommen? Der Herbst steht auch für einen gesamten Lebensabschnitt, in dem wir Rückschau auf unser Leben halten, unser Zeug ordnen, Vorsorge treffen und im besten Falle die obenstehenden Fragen mit einer langen Liste beantworten können, die von unserer Lebensfreude und vielen gut genutzten Jahren zeugt.
In unserer kleinen Galerie reiht sich Szene an Szene. Die Vögel ziehen in wärmere Gefilde, ein junges Mädchen wandelt im fernen China durch das abendliche Gebirge, Wildschweine werden vom Herbststurm durch den Wald gejagt. Die Nachtstücke ziehen uns mit verträumt schwebender Atmosphäre und dunklen Schattierungen in ihren Bann und der Sonnen-gesang ist ein gewaltiges Panorama, das die unser Leben bestimmenden Kräfte vereint. In der vergangenen Projektphase haben wir in unserer Chorwerkstatt das Labor aufgesucht und uns mit der experimentellen Fa- cette der Musik, der Improvisation, beschäftigt. Unter der ebenso fachkun- digen wie amüsanten Anleitung der Schauspielerin und Theaterpädagogin Christina Papst wurden in einem mehrteiligen Workshop
Klangimprovisationen über drei Herbstgedichte und -lieder entwickelt. Begleitend dazu, hat sich der Chor mit spielerischen Übungen in Körperwahrnehmung, Raumgefühl, Achtsamkeit und Artikulation geübt und ungeahnte Talente und Fähigkeiten entdeckt.
Der zeitliche Ablauf, die musikalischen Mittel und die Struktur dieser Stücke sind abgesprochen. Innerhalb dieser skizzenhaft umrissenen ‚Klangräume‘ realisieren die Sängerinnen und Sänger diese Stücke dann an jedem Abend neu und es entsteht, abhängig von Raum und Atmosphäre, immer wieder ein etwas anderes und einzigartiges Stück. Die Improvisation steht der Komposition in ihrer Anlage wohl am konträrsten gegenüber. Sie ist nicht in fixierten Noten denkbar, braucht jedoch für alle Teilnehmenden verbindliche Parameter, um nicht im Beliebigen zu versanden. Sie benötigt somit klar umrissene Freiräume für eine andere Art der musikalischen Realisierung und erfordert ein neues Hören. Hier geht es nicht mehr um am Text orientierte Strophenform oder Melodieführung. Harmonielehre und Kontrapunkt sind nicht gefragt. Klangflächen verschieben sich, füllen den Raum, wandern in ihm umher. Der Zuhörer wird nicht mehr ausschließlich frontal besungen, sondern sitzt mitunter auch im Zentrum des Geschehens.
Der ‚Sonnengesang‘ des Franz von Assisi ist ein Hymnus auf die Schöpfung und das Leben und eine Aufforderung, sich im eigenen Verhalten zur Welt und zur Annahme von Krankheit, Leid und Sterben zu verantworten. Er schrieb ihn im Winter 1224/1225 kurz vor seinem eigenen Lebensende.
Bruder Sonne, Schwester Mond, Bruder Wind, Bruder Feuer, Mutter Erde, Schwester Wasser und Schwester Tod umkreisen Planetenartig den Höchsten und Allmächtigen. Sie sind es, die in ihrer Ambivalenz Leben und Vergehen bestimmen. Enjott Schneider (der u. a. auch die Filmmusik zu ‚Schlafes Bruder‘ schrieb) verbindet in seiner Komposition sparsam Ausdrucksformen der zeitgenössischen Musik, wie geflüsterten Sprech- gesang und Clusterakkorde mit volkstümlichen Zitaten, die durch alt- italienischen Gesänge, wie sie auch heute noch auf Sardinien und Korsika zu hören sind, inspiriert wurden. Charakteristisch dafür sind die lang gehal- tenen Borduntöne und Akkorde, mit sich darüber melodisch bewegendem Discant und der die Strophen strukturierende volkstümlich und tänzerische Kehrvers.
Franz von Assisi liebte die Musik seiner Zeit und zumindest der Refrain seines Sonnengesanges orientierte sich an den populären ‚Hits‘, wie sie im damaligen Frankreich und Italien von Spielmännern dargeboten wurden. Die Dichtung gehört aufgrund seiner Bedeutung im abendländischen Kulturkreis zur Weltliteratur und hat den Beginn der italienischen Dichtkunst maßgeblich beeinflusst.
Die hier gesungene deutsche Übersetzung von Leonhard Lehmann bleibt nah am altitalienischen Original. Entsprechend ist die Rede von „Schwester Mond“ und „Bruder Sonne“, was der im Italienischen – wie in allen romanischen Sprachen – üblichen grammatikalischen Geschlechterzuordnung Mond weiblich bzw. Sonne männlich entspricht.

Sandra Gallrein

Herbstbilder

Gerhard Rabe: Herbst
Gerhard Rabe: Herbstabend im Gebirge
Robert Sund: Herbst

Verklärter Herbst (Improvisation)

Enjott Schneider: Der Sonnengesang des Franz von Assisi

Herbststurm (C. Salvesen, Improvisation)

Josef Gabriel Rheinberger: Waldesgruß
Jürgen Golle: Herbstbild
Wolfram Buchenberg: Ich hab’ die Nacht geträumet
Rudolf Mauersberger: Herbstnacht im Gebirge

Bunt sind schon die Wälder (Michael Schmoll, Improvisation)

Matthias E. Becker: Kein schöner Land
Carl Ecker: Stimmen der Nacht